Zimmer #2
Video © Yves Itzek
Video © Yves Itzek
Video © Yves Itzek
Tonino Guerra L’equilibrio, Bompiani, Milano 1967
literarische Übersetzung: Elsbeth Gut Bozzetti
cap. II
Zum Beispiel
jedes Mal, wenn ich am Ertrinken bin
vergesse ich, um Hilfe zu rufen.
Was die Kohlköpfe angeht, werde ich nie den Kohlkopf vergessen, den der Kommandant des Lagers (ein junger Bursche der SS von etwa sechzehn Jahren) an jenem Abend im Arm hielt wie in Wickelkind. Ein bläulich schimmernder Kohlkopf mit großen gewundenen Blättern. Sie waren alle von derselben Sorte, die Kohlköpfe, die er jeden Abend und jeden Morgen im Arm hielt. Mit dem anderen Arm, der anstelle der Hand einen eisernen Haken hatte, riss er Blatt um Blatt ab und streckte sie den Gefangenen hin, die in Reih und Glied auf dem Platz vor der Baracke standen. Der Haken grub sich in den unteren Teil des Blatts, dort, wo es härter ist, nahe am Strunk. Mit einem Ruck riss er das Blatt ab und gab es einem von uns. Am ersten Abend hat diese Geschichte mit dem Kohlkopf großen Eindruck auf mich gemacht. Ich hielt das Blatt wie einen Fächer in der Hand. Alle hielten das Blatt wie man einen Fächer in der Hand hält. Als er uns dann befahl, es zu essen, haben wir angefangen daran zu mümmeln, wie die Hasen. Zuerst den oberen, zarteren Teil, dann immer weiter hinunter bis zu dem weißen Teil, der sehr viel bitterer schmeckt. Ich kannte keinen von denen, die um mich herumstanden, und kannte auch das Konzentrationslager nicht. Ich war im Sidecar eines Feldwebels, der mich hinter der Front aufgesammelt hatte, dorthin gekommen.
Eine Baracke aus verfaultem Holz, das rote Gebäude der Lagerleitung, ein Platz voll schwärzlicher Asche mit Resten von Holz und Eisen, als habe man wer weiß was verbrannt, der Zaun ringsum.
Später haben sie mir gesagt, dass auch der Kohlkopf Teil der Bestrafung war. Man erzwang den Häftling, der dem sechzehnjährigen Lagerkommandanten mit dem Haken anstelle der rechten Hand, die Uhr gestohlen hatte. Das große Strafmittel aber war ein anderes. Jede Nacht, wann es ihm gerade passe, um neun, um zehn, um Mitternacht, käme der Offizier in die Baracke und gäbe im Dunkeln drei Schüsse ab. Drei Schüsse mit dem Revolver. Angefangen bei jener Nacht. Wenn es einen gab, der damit nichts zu tun hatte, war ich es. Auch der Offizier hatte gesehen, dass ich gerade erst mit dem Sidecar angekommen war. Ich bat also darum, woanders zu schlafen. Nichts zu machen.
Abgesehen davon hatte ich einen höllischen Tag gehabt, denn ich kam direkt von der Front, wo ich Schützengräben aushob. Drei Meter lang, ein Meter achtzig tief. Jeden Abend kam ein Deutscher und überprüfte die Arbeit mit einem Zollstock. Wir schliefen in einer baufälligen Dorfschule, die jeden Tag beschossen wurde. Am Morgen jenes Tages, es mag gegen zwei oder auch drei Uhr gewesen sein, fing die Erde an zu beben. Der Zementfußboden der alten Bruchbude begann sich zu heben, aufzubrechen, an vielen Stellen entstanden Risse. In der Dunkelheit suche ich nach der Konservendose, in der ich mein Unterhemd ausgekocht hatte, um den Läusen den Garaus zu machen. Ich finde sie. Tappe mit der Dose in der Hand durch die Nacht. Gelange auf einen Waldweg. Schlage mit dem Kopf gegen eine Menge Geschosse, gegen Baumstämme. Sehe undeutlich eine V2, die niedrig über die Bäume fliegt und in der grauen Luft kreiselt wie ein alter verrosteter Lastwagen. Ich lasse den Wald hinter mir und komme in eine Ebene, die bereits von einer schmutzigen Dämmerung erhellt ist. Die Luft ist voll von glühenden Eisensplittern von wer weiß woher, die sich in den weichen Boden graben. Aber da war auch Wind, ein unnatürlicher Wind, der alle Art von Papier, auch Zeitungen, die in der Ebene herumlagen, aufgewirbelt hatte, auch Briefe, Briefmarken, Stroh, Federn. Und mittendrin, mein Kopf. Aber dann gewöhnt man sich an alles und schließlich hört man das Pfeifen der Geschosse, erkennt ihre Flugrichtung und beginnt ihnen auszuweichen, als wären es Steine, wohingegen es glühendes Blei ist, das Geldschränke durchlöchern kann. Dann steigen schwarze Wolken aus der Erde auf und lassen verstümmelte, verkohlte Männer im Gras zurück. Schüsse und Schreie. Offene Münder, im Schlamm versunkene Füße. Waffen, wohin du schaust, auch Hände, auch Körper und mit schmutzigen Binden umwickelte Köpfe. Mit der Dose in der rechten Hand krieche ich auf allen Vieren vorwärts, um nicht in die Schusslinie zu geraten. In der mit Eisen gesättigten Luft verrücke ich ständig meinen Kopf. Ich komme zu einem Wassergraben und beginne ein paar Schafen zuzuschauen, die in aller Ruhe am Graben entlang grasen. Sie werden bewacht von einem alten Schäferhund, reglos auf der Handbreit Land, die das Gras am Graben von dem jungen, aufsprießenden Korn auf dem großen Acker daneben trennt. Die Augen der Schafe schauen gierig auf das junge Korn. Einige strecken ihr Maul danach aus. Aber der Hund fällt über sie her und beißt sie in die Pfote. Der Hund weiß, was er will. Hat es auch gestern gewusst. Und auch, wenn die Erde bebt. Das Korn wird nicht angerührt.
An einem Lastwagen löst sich ein Rad, rollt in die Äcker, reißt stacheliges Gebüsch mit sich. Ich und ein anderer fallen in eine Pfütze. Keine Ahnung, wer der andere ist. Ich sehe nur seine Schuhe. Stehe auf. Er schreit mich an. Schießt auf mich. Trifft dreimal in die Pfütze. Ich rolle auf eine andere Seite zwischen Menschen, die durch die Ebene torkeln mit zerfetzten Kleidern, die mit bloßen Händen die Geschosse abwehren, damit sie nicht direkt ins Gesicht oder in die klappernden Knochen der Brust gehen. Dann eine liegengelassene Kanone, ein umgestürzter Lastwagen, zwei Lastwagen, ein Fahrrad, die Hand eines Soldaten, die im Laufen ein Bajonett umklammert. Ich stoße gegen eine Hausmauer. Endlich ein Haus. Ich suche eine Tür, also etwas, um mich in der Mauerschachtel in Sicherheit zu bringen. Finde sie. Steige die Treppe hoch. Betrete eine Küche mit gekachelten Wänden, einem gedeckten Tisch, acht Tellern voll warmem Essen. Die Silberlöffel schon in der Suppe. Wo sind die Leute, die gegessen haben? Ich setze mich und esse. Aber da kommt jemand die Treppe hoch. Stürmt herein. Es sind acht sehr junge Flieger, Hose und Jacke aus braunem Leder. Ein Tuch um den Hals. Sie lachen. Klatschen mir auf die Schulter. Essen. Gehen hinaus. Ziehen mich mit sich auf die Straße, auf der drei Flugzeuge unter großen Tarnnetzen versteckt sind. Sie ziehen die Netze ab. Nehmen Anlauf auf dem holprigen Boden. Steigen auf in die Luft voller Rabenflügel und Bleisplitter. Ein Motorrad mit Sidecar hält neben mir. Ein Unteroffizier, klein, staubüberzogen, Brillenträger, packt mich am Kragen und drückt mich in das Sidecar. Wir fahren los auf einem Weg, der sich in der Ebene verliert. Weg von den amerikanischen Panzern, die vorrücken, dem Dröhnen, den Splittern, die aus der bebenden Erde aufspritzen. Es braucht eine Stunde, bis wir in der Stille ankommen. Eine Stunde, um einen stillen Ort zu finden. Und jetzt sind wir hier, im Lager, wo Kohlblätter ausgeteilt werden.
Ich soll auf der oberen Pritsche eines Stockbettes schlafen. So nennen sie die Betten, wenn eines über dem anderen ist. Wir waren zwei, die oben schliefen. Ich und der Kranke, ein Kerl, der sich nie Bewegung verschaffte und immer liegen blieb, Tag und Nacht. Er hatte ein Leiden. Keine Ahnung, welches. Er kratzte sich immer. Auch nachts hörte man, wie er sich kratzte. Vielleicht, weil die Fingernägel über die Rippen strichen. Gut möglich, dass er sich absichtlich kratzte, um mehr oder weniger allen auf die Nerven zu gehen. Tagsüber hielt er seine Hände unten. Ließ sie hängen. Sie waren voller Blut. Die anderen lagen, einer hier, einer da, auf ihren Strohsäcken. Da war der Italiener Violini, ein Kerl so klein wie unser König, den hatten die Deutschen aus dem Gefängnis von Brescia mitgenommen, dann noch ein paar Russen, einige Polen, darunter ein Pfarrer, und in einer Ecke der Baracke ein Serbe, ein Mann, der ein Elefant gewesen sein muss: der eine oder andere Knochen war noch da und hielt den Stoff, der ihn bedeckte, der Rest aber waren Furchen, Spalten, schreckliche Hohlräume, in denen sich die Falten der Hose und der Jacke türmten. Da waren auch zwei Jugoslawen, Mann und Frau, die unter mir schliefen, sie lagen seitlich, entweder Bauch an Bauch oder Rücken gegen Rücken
Ich weiß nicht, von wem die Anschuldigung ausging. Jemand muss es gewesen sein, denn von nichts kommt nichts. Jedenfalls gehen drei oder vier auf Violini los und wollen wissen, wo er die Uhr hingetan hat. Er war ein professioneller Dieb, also musste er derjenige sein, der die Uhr gestohlen hat. Der ganze Streit ist gegen zehn Uhr nachts losgegangen, als wir schon seit einer Stunde wachlagen und darauf warteten, dass die Tür aufging, der Offizier hereinkäme und die drei Revolverschüsse abgäbe. Draußen waren die Hunde, nachts ließen sie die Hunde frei auf dem Platz herumrennen. Drinnen war es dunkel. Anfangs wollte niemand im Bett liegen bleiben. Die meisten standen lieber an den Mauern entlang in der Überzeugung, der Offizier würde auf den Boden schießen. So drängten wir uns in der Ecke des Elefantenmannes zusammen. Alle dort, wie die Heringe. Der Einzige, der sich nicht vom Fleck rührte und blieb, wo er war, war der Kranke. Er lachte sogar. Kratzte sich nicht mehr. Alle könnten sterben, nicht nur er, dass wusste er jetzt, und das machte ihm gute Laune. Zwischen einer Ortsveränderung und der anderen gab es auch Augenblicke großer Stille. Ja, wir hielten den Atem an, um zu hören, ob da außer dem Getrappel der Hunde auch der Schritt des Offiziers war. Und in diesen Pausen ermahnte der polnische Priester uns, hinzuknien und zu beten.
Dann fand nach und nach jeder zu seinem Platz, seinem Strohsack, seiner Ecke zurück, wie um zu sagen: komme was da wolle. Und in eben diesem Moment entstand plötzlich der Streit und das Getümmel um Violini. Es war, als habe man den Deckel eines Abfalleimers gelüftet, denn Violini war wie ein Abfalleimer. Erstens war er mit Papier bekleidet, Papier jeglicher Art, das er mit Schnüren und Haken fest um den Leib gezurrt hielt, dann war er auch voll von etwas Hartem, vielleicht Spänen von wer weiß was, und wahrscheinlich steckte in den Ärmeln auch die eine oder andere Kante Brot. Sein Schlafplatz war eine Anhäufung von staubigem Zeug. Zehn, zwanzig Hände betasteten und zerrissen dieses Papier, diesen ganzen Kram auf der Suche nach der Uhr. Er schrie. Zuerst Wörter, dann spitze Schreie, wie die Mäuse sie ausstoßen. Plötzlich öffnet er, nackt wie ein Wurm, die Tür der Baracke und rennt auf den Platz. Verrückt geworden. Von drinnen hörten wir, wie die Hunde ihn fassten. Ein sehr kurzer Kampf, denn sie wussten, wie sie flüchtende Gefangene fassen mussten. An der Kehle. Violini brachte noch ein paar Schreie hervor, dann sank sein ganzer Atem zu Klagelaut zusammen.
Um Mitternacht begann man die Schritte des Offiziers zu hören. Es kann auch kurz davor oder kurz danach gewesen sein. Immer hallendere Schritte. Dann Anhalten nah bei der Baracke. Wir hörten, wie seine Pisse gegen die Holzwand spritzte. Dann wieder Schritte, weniger sichere, als könne er die Tür nicht finden. Wieder eine lange Stille. Aber er war schon hereingekommen und hatte sehr leise die Tür hinter sich geschlossen. Aufgrund einiger metallischer Geräusche des Revolvers wussten wir, dass er da war, unter uns. Sein Hafer-Atem waberte durch die Luft. Sicher hatte er die Waffe bereits auf etwas gerichtet. Ich dachte daran, in einem Haus auf dem Land zu leben, bei einem Fluss voller Steine und ohne Wasser. Allein in diesem Haus. Allein, nicht einmal ein Hund. Und viel Sonne und auch Schatten. Und ich in der Sonne und im Schatten. Und die Hände in der Hosentasche. Der erste Schuss hallte in der Baracke wider und alle schrien wir, als wären wir getroffen worden. Dann wieder Stille und dann der zweite Schuss und auch der dritte.
Als er wegging, waren wir derart erschöpft, dass wir gleich einschliefen und nicht an den dachten, der tödlich getroffen oder verletzt worden war. Wir sahen ihn am andern Morgen. Getroffen worden war ein Russe, an einem Arm, kaum der Rede wert. Er war verblutet, weil niemand ihm geholfen hatte und er durch das Dunkel getorkelt war und dabei Blut auf das Gesicht des einen oder andern getropft war. Wir begruben ihn in dem Haufen Asche, der einen Großteil des Lagers bedeckte.