Zimmer #3

Video © Yves Itzek
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Tonino Guerra L’equilibrio, Bompiani, Milano 1967
literarische Übersetzung: Elsbeth Gut Bozzetti

cap. IV, 65-68

Zum Beispiel
warum wollen die Dinge, die verloren gehen
nicht wiedergefunden werden?

 

Die Asche, all die Asche, die das Gebiet jenseits des roten Hauses der Lagerleitung bedeckte und bis zu der einzigen Baracke reichte, in der wir waren. Es war Asche von abgebrannten Baracken, denn ein Monat davor war der Flecktyphus ausgebrochen und hatte an die tausend Gefangene in die andere Welt befördert. Die, die jetzt da waren, waren die einzigen, die davongekommen waren. Tagsüber standen wir mit den Füßen in dieser Asche, und auch mit den Augen. Da gab es Nägel, Stangen, Stücke von verkohltem Holz, lauter Dinge, die brauchbar waren, einen Schutzwall um den Strohsack herum zu bauen. Einen Schutz gegen die Geschosse, die jeden Abend hierhin oder dorthin flogen. Einer hatte Blech gefunden und sich eine Art Helm fabriziert, andere setzten sich eine Dose auf den Kopf. Aber das waren alles nur Notbehelfe. Einen Toten gab es immer. Der Offizier kam zu jeder Uhrzeit, wann es ihm passte. Am Morgen danach hießen sie uns die Toten unter der Asche verscharren und uns dann in Reih und Glied aufstellen; er befahl immer dasselbe: heraustreten, wer die Uhr gestohlen hat. Niemand rührte sich und so ging die Bestrafung weiter. Es starben an die zehn in wenigen Tagen. Auch der Kranke starb: drei Schüsse alle auf ihn, als habe der Offizier immer in dieselbe Richtung geschossen. Wir glaubten, er sei an der Krankheit gestorben, stellten dann aber fest, dass er erschossen worden war, als wir ihn nackt auszogen, um seine Kleidung an uns zu nehmen kurz bevor er unter die Asche kam. Er hatte drei Einschusslöcher im Körper. Drei Löcher mit schwarzem, verbranntem Rand. Blut, das war offensichtlich, hatte er keines mehr.

An eben diesem Tag brach die größte Verzweiflung über uns herein und wir wandten uns wohl oder übel an den polnischen Pfarrer. Er müsse eine Lösung finden, um uns zu retten, uns aus dieser Hölle zu befreien. Er glaubte an Gott und wir nicht. Er, wenn er sterbe, käme ins Paradies, wir nicht. Wir beschimpften ihn als Lügner und Heuchler. Rissen Blätter aus seiner kleinen schwarzen Bibel, die er bei sich trug. Schluss mit Gebeten und Worten. Es brauche Taten. Und er solle ein Zeichen setzen. Drei oder vier Tage sprach keiner mit ihm, keiner näherte sich ihm und wenn er zu der einen oder der anderen Gruppe trat, um ein bisschen menschliche Wärme zu verspüren, gingen wir sofort auseinander, als habe er die Lepra. Wir sahen ihn mehrere Male sich in der Asche niederknien und beten, den Kopf zwischen den Händen.

Eines Abends schließlich, gerade als der Offizier die Kohlblätter austeilte, trat er aus der Reihe und kniete sich vor dem Lagerkommandanten nieder. Er sei der Schuldige, sagte er. Der Offizier zog den Revolver und hielt ihn an seinen Nacken. Der Pfarrer sagte, er habe sie in die Asche geworfen. Der Offizier ließ ein entsetzliches Gelächter erschallen. Hieß ihn aufstehen. Sagte, er könne Märtyrer nicht ausstehen und der Dieb sei sicher nicht er. Er schickte ihn ins Glied zurück und teilte die Kohlblätter aus.

Ich weiß, dass ein Mensch Katze werden kann. Vor allem, wenn er es sich in den Kopf setzt. Nicht, dass ihm ein Fell oder ein Schwanz wachsen, aber auf eine gewisse Weise wird er es. Was mich angeht, wollte ich Katze werden aus besonderen, persönlichen Gründen, ich wollte vor allem die Sehschärfe einer Katze haben, denn die Katzen sehen in der Nacht und eben daran war mir gelegen. Nicht so sehr, um den Offizier zu sehen und zu erkennen, in welche Richtung er die bewaffnete Hand hielt, um die drei Schüsse abzugeben. Nein, das nicht. Ich wollte Katze werden aus einem anderen Grund: ich war dabei, mich in die Tschechoslowakin zu verlieben, die schöne junge Frau, die mit ihrem Mann im Bett unter mir schlief. Ich weiß nicht, wie sie hieß. Habe es nie erfahren. Ich weiß nicht, ob sie etwas bemerkt hatte. Mag sein, denn wenn wir in der Asche herumliefen auf der Suche nach Dingen, warfen wir uns hin und wieder einen Blick zu. Weiter nichts. Blicke, nichts weiter. Auch wenn wir das Kohlblatt aßen wie die Hasen. Sie war mehr Hase als ich, kaute mit mehr Feingefühl, ohne Geräusch und diese Tatsache erregte mich, denn ich spürte, dass sie Frau war. In der Nacht hatten die anderen einen schweren Schlaf, sie hingegen einen leichten, warmen Atem, der mir sogar meinen Schlafplatz wärmte. Dann begannen sie, Liebe zu machen. Sie machten es jeden Abend und ich ließ meinen Kopf herabhängen, um besser zu hören. Aber ich wollte auch besser sehen und eben deshalb wünschte ich mir, Katze zu werden. Die ganze Zeit hielt ich meine Augen auf das Innere der Baracke gerichtet. In der zweiten Nacht, glaub‘ ich, habe ich angefangen, etwas zu sehen. Ich war mir aber nicht sicher. Ich hatte die Anordnung des ganzen Raumes so gut im Kopf, dass ich vielleicht Dinge erkannte, nur weil mein Geist sie in das Dunkel projizierte. Jedenfalls fing ich an, die Schlafstätten zu sehen, wo die Russen waren. Dann die Ecke des Elefantenmann. Dann den Fußboden. Bis sich alles klar abzeichnete. Vielleicht kamen mir einige Löcher in der Decke der Baracke zu Hilfe, die von den Geschossen des Offiziers stammten. Vielleicht kam aus ihnen das bisschen Licht, das sich im Innern widerspiegelte.

So sah ich sie, wenn sie Liebe machten. Ihn, rücklings, sie mit erregtem Gesicht und weißen, geöffneten Beinen. Wir begannen, uns anzusehen, während sie Liebe machten, denn ich ließ meinen Kopf herabhängen. Am vierten oder fünften Abend ließ ich außer dem Kopf auch einen Arm herabhängen. Und sie, auf dem Höhepunkt des Orgasmus‘, nahm meine Hand und drückte sie. So ging das mehrere Abende. Sie machte Liebe, schaute mich an und wir hielten uns an der Hand. Ihren Mann hielt sie mit der anderen Hand. Vielleicht hat er deshalb nichts bemerkt.

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