Zimmer #7
Video © Yves Itzek
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Giocchino Strocchi: Diario di una prigionia 1944/1945
a.c. Ma9eo Banzola e Roberto Gardini con un’intervista a Tonino Guerra ed. Comune di Ravenna 2005
Tonino Guerra erinnert sich: „In Troisdorf war er für mich ein Vater“
Tonino Guerra lernte Gioacchino Strocchi am 5. August 1944 in einer Kaserne in Forlì kennen, nach einer Razzia; er war vierundzwanzig Jahre alt, zwanzig Jahre jünger als „der Dottore“ von San Pietro in Vincoli.
„Ich war sehr jung, die Faschisten haben mich in Sant’Arcangelo geschnappt … ich war aus dem Haus gegangen, um die Katze zu füttern. Sie haben mich nach Forlì gebracht, unter den romagnolischen Gefangenen war auch Strocchi. Sie haben uns in einen Güterzug geladen, zusammen mit den Kohlköpfen; die Stimmung unter uns war nicht besonders niedergeschlagen, man war der Überzeugung, dass der Krieg vorbei und dies der letzte Streich sei, den das Schicksal uns spielen konnte. Im Zug dachten wir, die Amerikaner würden uns am Brenner befreien; stattdessen sind wir im Konzentrationslager Troisdorf angekommen. Dort ist nach und nach die Sympathie für den Doktor entstanden, für diese Person, die wir als alt ansahen und die uns mit wenigen Worten sehr viel Zuversicht schenkte.“
In seinem Tagebuch erzählt Strocchi, dass Sie in dieser Zeit zu schreiben anfingen.
„Das stimmt, auch dank seiner Ermutigung, der diese Gedichte mochte, die ich den Häftlingen erzählte. Viel hing von ihm ab, um genauer zu sein, von einer seiner Erzählungen, die mich dazu angeregt hat, eine Fabel zu schreiben: „I tre capelli“ (Die drei Haar’). Die Gefährten in der Gefangenschaft baten mich, abends etwas zu erzählen, um Gesellschaft zu leisten, und da die meisten den Dialekt sehr gut verstanden, hab’ ich mir also einige Gedichte ausgedacht, die der Doktor in ein Heft schrieb, das er dann mit sich nach Italien gebracht hat. Später ist dieses Heft in die Hände eines anderen Häftlings gelangt, eines Mannes aus Rimini, der vor wenigen Jahren gestorben ist. Er spielte Geige, ein wunderbarer Mensch …zwei Jahre vor seinem Tod hat er einen Schlaganfall erlitten und konnte dann fast nicht mehr sprechen. Wenn er doch ein Wort über die Lippen brachte, waren es die Verse meiner Gedichte aus dem Konzentrationslager, diejenigen, die Strocchi aufgezeichnet hatte.“
Sie schrieben nicht nur Gedichte, Sie malten auch …
„Da ich die Deutschen oft auf den Arm nahm – ich weiß nicht, wo ich dazu den Mut nahm… normalerweise bin ich sehr ängstlich; wenn Bomben fielen, war ich der einzige Häftling, der nicht im Schutzraum war. Dann ging ich in die verlassenen Büros, nahm Papier und Buntstifte und malte; wenn sie aus dem Schutzraum kamen, schenkte ich den Mädchen meine Zeichnungen.
Am 1. Februar 1945 wurde Tonino in das Lager Siegburg verlegt; zusammen mit zwei Freunden hinterließ er dem Doktor eine Grußkarte, unterzeichnet mit „I suoi figli“ (Ihre Söhne).
„Ja, daran erinnere ich mich … er war doppelt so alt wie wir, ihm war daran gelegen, uns zu beschützen und wir fühlten uns in seiner Obhut.
Er arbeitete als Krankenpfleger, in gewisser Weise hatte er ein sichereres Leben, aber er kam immer, um uns zu ermuntern und uns zu bringen, was er übrighafte. Für uns junge Leute war er eine Art Lehrmeister, nicht nur wegen des Alters: seine Güte, die Weisheit geworden war, war in diesem Konzentrationslager unentbehrlich.“
Haben Sie den Doktor nach jener Zeit wiedergesehen?
„Nein, ich habe ihn nicht wiedergesehen, und das mache ich mir zum Vorwurf. Ich bin nie in sein Dorf gegangen, habe nie nach ihm gefragt. Ihn und jene Frau … als ich von den Faschisten festgenommen wurde, hatte ich in der Jackentasche Flugblätter der Democrazia CrisIana, die mir prof. Molari anvertraut hatte, der dann erschossen worden ist. Ich habe es geschafft, sie einer Frau zuzustecken, die zufällig vorbeikam, ich kannte sie nicht und sie hat mir das Leben gerettet! Nach Sant’Arcangelo zurückgekehrt, bin ich mehrere Male bis zum Hoftor des Bauernhauses gegangen, wo sie lebte, aber ich bin nie hineingegangen, um ihr zu danken, ich dankte ihr aus der Ferne. Ich weiß nicht warum, aber das war nicht recht und heute werfe ich mir das vor. Aber es war nicht aus Gleichgültigkeit, ich habe immer mit Zuneigung an sie und an den Doktor gedacht.“
Auch wenn Sie ihn nicht wiedergesehen haben, so haben Sie ihm doch ein Exemplar Ihres ersten Buches „I scarabocc“ zukommen lassen, mit folgender Widmung: „Um eine Reise zu erinnern, die zu vergessen ist“.
„Stimmt, aber die Reise ist nicht zu vergessen, zunächst, weil sie selbst nicht vergessen werden will und dann muss ich sagen … im Abstand von vielen Jahren … ist es für mich eine märchenhafte Reise, ein bitteres Märchen, das mir aber viel gegeben hat, es hat mich dazu gebracht, über das Leben und den Tod nachzudenken, ich habe Gesten großer Freundschaft erfahren. Diese Zeit hat stark auf mich eingewirkt, auf das Kino, beispielsweise, die Erzählungen, die ich nach der Rückkehr geschrieben habe, haben viele Regisseure angeregt.“
In einem Bild, wenn möglich, Ihre lebhafteste Erinnerung an den Doktor.
„Die Kanarienvögel … sein Zuhause war voller Kanarienvögel, er erzählte uns oft mit Hingabe davon, konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Einmal habe ich, glaub ich, zu ihm gesagt: „Gefangene wie wir“; er antwortete: „Nein, sie sind nicht Gefangene, ich beschütze sie vor den Gefahren, die draußen sind, ich mag sie, mit mir finden sie die wahre Freiheit“. So hörte ich also, wenn er sich mir näherte, den Gesang der Kanarienvögel … und sah die Kanarienvögel in seinen Augen. Er hat mich raus aus dem Gefängnis gebracht und hinein in die Poesie¸ es war schön zu entfliehen, diesem Märchen hinterher.“
Pennabilli (PU), 6. Dezember 2005
Interview von Alberto Argnani