Zimmer #4

Video © Yves Itzek
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Tonino Guerra L’equilibrio, Bompiani, Milano 1967
literarische Übersetzung: Elsbeth Gut Bozzetti

cap. VI, p.89-102

Zum Beispiel
wenn die Dinge mir aus der Hand fallen
ist das nicht meine Schuld, es ist die Schuld der Dinge.

 

Die Tage gingen dahin auch mit den drei Geschossen, die sich nachts in jemandes Fleisch bohrten. Als wäre es eine chronische Krankheit. Niemand wartete mehr mit besonderem Bangen auf den Offizier. Allerdings rissen uns die Schüsse aus dem Schlaf. Natürlich wachte, wer getroffen war, sofort auf. Ein paar Klagelaute, dann nichts mehr. Und am Morgen verscharrten wir ihn in der Asche. Jetzt war das Fürchterliche der Hunger. So fingen wir an, Jagd auf die Krähen zu machen.

Zuerst hatten wir an die Mäuse gedacht, denn in der Nacht hörten wir sie über die Asche laufen. Aber wir fanden nie heraus, wo sie sich tagsüber versteckten. Vielleicht hatten sie tiefe Höhlen, nicht zu findende Unterschlüpfe unter dem Haus der Lagerleitung. Die Krähen hingegen waren immer da. Entweder hockten sie reglos auf den Zäunen, oder sie flogen auf, um sich auf die Zweige des Waldes jenseits der Umzäunung zu setzen. Mehr als zu fliegen, scheinen die Krähen sich an die Luft zu klammern, an die Wolken, und wenn sie landen, haben sie eine schlecht kontrollierte Schwere, hüpfen herum wie jemand, der eine Treppe herunterfällt. Mindestens drei- viermal am Tag war ich nahe daran, eine zu packen. Aber dann, im letzten Moment, tac, flog sie davon. Der Elefantenmann hielt eines Tages eine Handvoll Federn in der Faust. Er hatte sie am Schwanz erwischt.

Aber dann kam der Morgen, an dem die Erde zu beben begann, die Baracke bebte, die Umzäunung und die Zweige des Waldes. Das Zeichen, dass die Front näherkam. Da war die Angst zu sterben wieder da. Es gibt nichts Schlimmeres, als genau dann zu sterben, wenn sie kommen, um dich zu retten. Der Offizier der SS schrie auch an jenem Morgen: vortreten, wer die Uhr gestohlen hat! Wieder einmal trat der Schuldige nicht aus den Reihen. Aber vielleicht war der Schuldige bereits tot. Jedenfalls erwartete niemand, dass der Schuldige vortreten würde, auch der Offizier nicht. Über den Köpfen kreisten derweil die Krähen, die sich nicht getrauten, sich irgendwo niederzulassen. Hin und her, hin und her wie die Verrückten. Man sieht, sie hatten Angst vor allen diesen Dingen, die bebten. Schließlich, gegen vier Uhr nachmittags, begannen sie auf die Erde zu fallen, als wären sie Schuhe. Sie fallen überall hin: auf das Dach der Baracke, auf den Vorplatz, in die Asche. Die meisten waren noch am Leben. Am Leben, aber erschöpft, mit Flügeln, die am Boden schleiften. Sie hinkten. Der Kommandant tritt aus dem Haus, den Revolver in der Hand. Er knallt sie ab, eine nach der anderen.

Es war an eben diesem Tag, dass der Tschechoslowake entschied, man müsse den Offizier töten. Ich weiß nicht, warum wir nicht früher daran gedacht hatten. Jedenfalls war es jetzt die einzige Lösung. Der Offizier war fast immer betrunken, es war also leicht, seine Bewegungen einzuschätzen. Nach dem Offizier würden wir auch die Hunde töten mit langen, angekohlten, sehr harten Holzlatten. Und wir würden auch die wenigen Wachsoldaten überwältigen. An die zehn Soldaten, alles in allem. Da taucht irgendwann eine Spitzhacke auf. Ich weiß nicht, wo sie sie gefunden oder geklaut hatten. Wir werfen uns auf die Strohsäcke und warten.

Eine Stunde, zwei, auch länger. Endlich, da, seine Schritte. Sie waren nicht rhythmisch und gleichmäßig. Es schien, er habe nur einen Fuß, denn man hörte nur das Geräusch von einem Schuh, nicht von dem anderen. Vielleicht hinkte er. Oder hatte einen Schuh verloren. Vielleicht hatte er den Körper ganz nach einer Seite geneigt, sodass ein Bein immer im Ungleichgewicht war und er es über den Boden schleifend hinter sich herzog, um nicht vollständig das Gleichgewicht zu verlieren. Außerdem brüllte er. Unverständliche Wörter. Als wären es der Luft erteilte Befehle oder Beschimpfungen gegen die Amerikaner, die von jenseits des Wäldchens vorrückten oder dort ihre Barrikaden hatten. Der Tschechoslowake stand bei der Tür, hielt die Spitzhacke über dem Kopf, bereit, sie in den Körper des Offiziers zu rammen. Seine Frau, auf der Liege ausgestreckt, drehte hin und wieder ihren Kopf zu mir und schaute mich an. Der Deutsche, sicher betrunken, stützte sich mit den Händen gegen das Holz der Baracke. Begann, mit Fäusten auf die Wände einzuhämmern und lief um sie herum. Endlich gelangte er zur Tür. Man hörte ihn weinen. Er weinte, als hielte er das Gesicht in den Händen. Dann beruhigte er sich. Wahrscheinlich hatte er gerade beschlossen, hineinzugehen. Der Tschechoslowake umklammerte die Spitzhacke mit aller Kraft. Aber die Tür ging nicht auf. Plötzlich hallten drei Schüsse wider, von außen gegen die Tür und die Wand daneben abgefeuert. Der Tschechoslowake sank wie ein Sack auf den Boden. Eines der drei Geschosse hatte das Holz durchschlagen und sich in seine Kehle gegraben. Er starb ohne einen Aufschrei, einen Schmerzensschrei, einen Klagelaut. Seine Frau rannte ihm zu Hilfe. Kehrte zurück und warf sich verzweifelt auf den Strohsack. Die anderen machten sich nach und nach in einen geräuschvollen Schlaf davon. Ich kletterte von meinem Schlafplatz herunter und setzte mich auf die Liege der Frau. Berührte ihre Schulter in einer Geste des Trostes. Dann legte ich mich neben sie und streichelte ihr Haar. Sie hörte nicht auf zu weinen, während sie ihren Kopf in die Lumpen grub, die meine Brust bedeckten. Ihre Tränen liefen an meinem Hals herab. Ihre zitternden Lippen standen offen. Dann beruhigte sie sich. Wir blieben umschlungen. Eng umschlungen. Ich sagte ihr, dass ich sie liebe, dass ich sie mit mir nehmen wolle. Ich ließ sie vier Wörter auf Italienisch sagen. Die vier dummen Wörter, die man immer sagt. Amore, baci, buongiorno, buonasera. Sie lehrte mich diese vier Wörter auf Tschechisch. Dann küssten wir uns. Machten Liebe. Sprachen wieder miteinander. Wir verstanden uns ganz wenig. Aber alles schien hell, sanft, wunderbar. 

An jenem Morgen holte uns niemand aus der Baracke. Ich war bereits auf meine Pritsche zurückgekehrt. Sie war unten. Ihr Mann, auf dem Boden zusammengesackt, hielt seinen Tod umschlungen. Noch erschütternder aber war die Stille, die auf der Baracke lastete: kein Hundegebell, keine Schüsse, keine Krähen. Und die Erde, der ganze Planet, durchlief in der Stille die Etappen ihrer Revolution. Das Licht schimmerte immer kräftiger durch die Ritzen. Jeder von uns stellte Vermutungen an. Aber ohne den anderen seine Gedanken wirklich zu gestehen. Endlich stand der Elefantenmann von seinem Platz auf und durchquerte, die Füße schleifend, die Baracke. Nicht aus Neugier. Er musste pinkeln. Langsam machte er die Tür auf und alle hörten wir das Quietschen der Angeln. Als rüttle ein fürchterliches Geräusch an unserem Trommelfell. Wir streckten den Hals, um zu sehen, was draußen vor sich ging. Da waren Wind und Papier, das durch die Luft flog. Nur das. Und Spuren im getrockneten Schlamm. Der Elefantenmann ging hinaus auf den Platz, blieb stehen in dieser Stille, diesem Papier. Dann gingen die anderen hinaus. Auch ich ging hinaus. Wir bewegten uns auf dieser schlammigen Kruste mit der Langsamkeit alter Dickhäuter. Die fixen Reihen rostigen Stacheldrahts waren in surrealer Reglosigkeit an die Luft geklammert. Der Wind hatte noch mehr Papier gegen die Zäune ringsum gepresst. Dann die gräuliche Asche. Dann die offenen Türen des Hauses und das Durcheinander von Dingen, die vor der Tür und auch auf dem Fußboden drinnen zurückgelassen worden waren. Der eine oder andere steckte seinen Kopf hinein. Ging hinein. Ein Messer in einem Laib Schwarzbrot und Brotkrümel auf dem Tisch, zerbrochene Gläser, ein Gummistiefel. Dann, unerwartet, die Explosion des Bildes: zwei Füße, die von oben herabbaumelten. Der deutsche Offizier hatte sich mit einem Ledergürtel erhängt.

Wir gingen alle hin, um ihn zu sehen, standen da und stierten in sein graues Gesicht. Dann, aber nicht gleich, bemerkte jemand, dass er am linken Armgelenk seine Uhr trug. Niemand hatte sie ihm gestohlen, das wussten wir jetzt. Eine Uhr, die fast keinen Wert hatte. Der Zeiger stand auf viertel nach drei. Wir gingen auf den Platz und zu den Papieren zurück und glaubten noch nicht, dass der Krieg vorbei war. Und doch war das Tor offen, offen auf eine Lichtung, deren Wiesengras der Wind in unsere Richtung wehte. Wir schauten auf das offene Tor und auf die Wiese davor und regten uns nicht. Drängten uns wie eine Kugel aus Fleisch und Lumpen vor dem Tor zusammen. Die Frau, eben die Frau, die ich liebte, drückte meinen Arm, um mir zu sagen, ich sei nun ihr Mann und für immer.

Eine Stunde, zwei, drei, schauten wir schweigend durch das offene Tor, ohne dass sich von der Wiese her oder von den Wegen im Wald ein Amerikaner, ein Russe oder sonst ein Soldat von denen, die uns befreit hatten, hätte blicken lassen. Nichts. Plötzlich löste ich mich von allen und ging aus dem Lager hinaus. Ich tat das so schnell, dass ich mich auch vom Arm der Tschechoslowakin losmachte. Ich hielt aber gleich an und legte mich drei oder vier Meter hinter dem Tor ins Gras. Die Luft war eine andere, hatte einen anderen Duft, eine andere Leichtigkeit. Alle anderen schauten mir zu, lächelten, gingen aber nicht hinaus.

 

Ich stand auf und lief auf den Wald zu. Dann drehte ich mich um, von einer Stimme gerufen. Meine Frau rannte auf mich zu. Gemeinsam gingen wir weiter. 

Es war ein Schmetterling, der mir endgültig zu verstehen gab, dass ich frei war. Ich lief ihm nach, um ihn zu anzuschauen. Seine Flügel zu betrachten. Dann schaute ich die Blätter der Bäume an, die Zweige, die Wolken über dem Wald. Und sie, jene Frau, immer an meiner Seite. Sie versuchte, mich zurückzuhalten, damit ich ihr in die Augen schaue und sie mich bis auf den Grund erkennen könne.

Wie aber kann ein Mann, der gerade die Welt wieder in die Arme schließt, die Wälder zurückgewinnt, die Wolken, die Vögel – wie kann er sich auf ein kleines familiäres Problem konzentrieren. Die Frauen wissen nichts mit der Welt anzufangen. Was für eine Frau zählt, ist ein Mann. Tatsächlich bemerkte ich mehrere Male, wie einladend sie dasaß. Sie schlug mir ein kleines, kurzes Geschichtchen vor. Aber diese kreideweißen Strümpfe passten nicht in diese Umgebung. Ich kletterte in den Wipfel eines Baumes, um aus der Höhe zu sehen, was es rundum gab. Ob eine Stadt, ein Tal. So sah ich den weißen Fluss voller Steine und sah außerdem die Reihe amerikanischer Panzer am entfernteren Ufer. Ich stieg vom Baum herab und rannte die Wege entlang. Und sie hinterher. Mehr als einmal hielt sie mich am Arm fest. Nicht, damit ich sie ziehe, eher weil sie wohl das Gefühl hatte, mich zu verlieren. Dann fing sie an zu weinen und ich lief langsamer. Sagte diverse Dinge, während ich die unteren Äste der Bäume ohrfeigte. Sagte, dass die Liebe, eine Wohnung, Kinder, ein Leben zu zweit in einem Moment wie diesem, mit allem, was es wiederzuentdecken gab, wiederzusehen …. Sicher hab‘ ich nicht zu Ende geredet und hab‘ nicht verstanden, was sie gesagt hat, auch weil sie tschechisch sprach. Aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, was sie sagen wollte. Ich verstand den Namen ihres Mannes. Sie fühlte sich schuldig. Alle beide mussten wir uns schuldig fühlen, weil wir gewünscht hatten, dass er sterbe. Und jetzt nützte sein Tod gar nichts.

Irgendwann drehte ich mich um und sie war nicht da. Aber schon waren jenseits des lichten Waldes der Fluss und die Steine zu erkennen und dort unten am andern Flussufer die lange Reihe der Panzer mit dem weißen Stern. Während ich rannte, dachte ich, sie sähen einer Kette von Bratwürsten im Darm ähnlich. Ich zog mich nackt aus, um mir die Läuse vom Leib zu schaffen. Wollte ich sauber ankommen? Vielleicht aber wollte ich mit den Kleidern ein ganzes miserables Leben wegwerfen. Nackt auf den Steinen des Flusses und dort unten eine Musik, Jazz. Eine Platte von Armstrong: I can’t give you anything but love, baby.

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